Neulich habe ich eine neue Krankheit entdeckt: Atemporie. Schätzungsweise 5-8 % der Bevölkerung leidet darunter. Meine Entdeckung kam spät, aber zu spät kommen liegt bei uns in der Familie. Schon als 5jährige wartete ich mit Mutter an der Kirchentür, bis die erste Lesung vorbei war und der zweite Choral einsetzte. Damit wir nicht die Aufmerksamkeit vom Pfarrer ablenkten. Das lag daran, dass die Kirche um 10.00 begann und wir um 10.00 aus dem Haus gingen.
Wir hatten verdrängt, dass zwischen Haus und Kirche 2 km lagen. Wir hätten uns beamen müssen.
Diese Verhaltensweise konnte auch ich nicht ablegen. Wie oft hab ich in der Oper schon den ersten Akt vor dem Hausmeister-Monitor verfolgt, weil sie mich nicht reingelassen hatten. So ein Dirigent ist wie ein Pfarrer. Unangenehmer ist es noch bei Business Meetings, wenn man da stört und die Hälfte verpasst hat. Und dann heimlich versucht, sich zu updaten und peinliche Fragen stellt, die schon längst besprochen wurden.
Laut einer Umfrage weiß ich nun: ich bin nicht allein. Schätzungsweise 5-8 % aller Wiener leiden daran, dass sie beim Wahrnehmen von Terminen die Wegezeit geistig ausklammern. Arbeit, so haben wir in Physik gelernt = Weg X Zeit.
Von der langen Zeit des Weges sagt man nichts.
Bei der Atemporie handelt es sich also um eine schwere Störung organisativer Teile des Neurozerebralen Systems. Bei mir wohl genetisch bedingt. Ähnlich wie der Legastheniker sich Buchstabenfolgen nicht merken kann, kann sich der Atemporiker nicht merken, dass zwischen seinem ersten und seinem zweiten Termin ein Weg liegt. Treppen, Flure, Autobahnen, Flugmeilen.
Die Atemporie – kommt vom lateinischen Tempus, Zeit und vom griechischen Anti, gegen – ist leider sehr unerforscht und es gibt auch noch keine Selbsthilfegruppe. Das liegt daran, dass ich sie frisch definiert habe. Sie ist ganz neu sozusagen und könnte im Volkswirtschaftlichen Sinne einen Boom bringen. Mehrere Forschungsgruppen an Österreichischen Unis, hunderttausende publizierte Artikel, Aufbaukurse für Allgemein-Mediziner, Lehrersymposien zum Thema „Atemporie – Von der Volksschule bis zur Matura“. Myriaden von Apps für die Apple Watch könnten entwickelt werden, in dem der Atemporie-Koeffizient (schwer, mittel, saisonal) ermittelt wird und ein ausgeklügeltes Alarm- und Motivations-Programm in Gang gesetzt wird. Atemporie wird Burn Out als Modekrankheit weit hinter sich lassen.
Grad überlege ich mir, ob ich nicht Reif’s Atemporisches Syndrom draus machen sollte – ich hab ja als erster diese schwere dysfunktionale Störung beschrieben. Ich könnte vielleicht endlich berühmt werden. Allfällige frühere Gelegenheiten, berühmt zu werden, habe ich leider vermasselt – ja, richtig – durch Zuspätkommen. Wenn erst das „Cosima Reif Institut für Systematik und Phänomenologie der Atemporie“ in Harvard eröffnet wird, könnte ich mir einen Platz im Olymp der Sozialmedizin sichern. Das wäre lustig. Die Vorlesungen würden immer c.a.t. anfangen, cum a tempora, also das nackte Chaos.
Schließlich wäre es sicher auch ein Segen für alle Mitbetroffenen. Man wird nicht mehr gekündigt, sondern zeigt sein Attest und ist fein raus.